"Ja, mir geht es schlecht!"

„Ja, mir geht es schlecht!“

von | Nov 5, 2017

Hast du das auch schon mal beobachtet?

Da erzählt dir eine gute Freundin, wie es ihr gerade geht: Mit ihrem Schatz läuft es nicht mehr so wie früher. Er kommt abends immer spät nach Hause und wenn er dann da ist, setzt er sich vor den Fernseher und will seine Ruhe haben. Für sie hat er kaum noch Zeit. Wenn er dann doch mal mit ihr redet, ist er schnell auf 180 und nicht wirklich nett zu ihr. Und es wird immer schlimmer. Sie hat schon alles probiert: War nachsichtig, hat das Problem angesprochen, hat geschwiegen. Nichts hat geholfen. Sie fragt sich sogar, ob er vielleicht schon eine Neue hat. Ganz im Vertrauen gesagt: Die Beziehung steht kurz vor dem Aus.

Und nachdem deine Freundin dir all das erzählt hat, schiebt sie noch schnell zwei Sätze hinterher: „Aber ich will nicht klagen. Sonst geht es mir ja gut.“

Ich weiß nicht, warum es so ist. Aber es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu geben, dass es einem nicht schlecht gehen darf. Und ich merke, wie ich mit diesem Verbot immer weniger mitgehen kann. Deshalb würde ich damit in diesem Blogartikel gerne ein wenig aufräumen.

In der Theorie …

Theoretisch ist alles klar: Krisen gehören zum Leben dazu und jeder Mensch durchlebt welche.

Wenn ich mich so umhöre, mit was Leute sich rumschlagen, hat jeder sein Päckchen zu schleppen: der Ehemann, der vom Alkohol nicht loskommt … die Erzieherin im Kindergarten, die noch von der alten Schule ist und die Kleinen regelmäßig in die Ecke stellt … der Tod der lieben Oma … der Lernstoff im Studium, der einen fast zu erschlagen droht … ein jähzorniger Chef … ein paar mobbende Kolleginnen … ein Job, der nicht erfüllt … die beste Freundin, die ans andere Ende von Deutschland ziehen wird … ein geplatztes Auslandsjahr … der aufdringliche Nachbar, der jede Woche mit einem kitschigen Geschenk vor der Türe steht und sich nicht abschütteln lässt … finanzielle Schwierigkeiten … ein schlechtes Verhältnis zu den eigenen Eltern … und so weiter. Burnout und Depressionen sind zur Volkskrankheit geworden und auch die Zahl an Essstörungen steigt kontinuierlich in schwindelerregende Höhen.

Kurzum: Jeder hat irgendwas.

Und irgendwie ist es auch wichtig, dass es solche Tiefphasen gibt, denn erst dadurch, dass die Tiefen Tiefen sind, werden die Höhen zu Höhen. Nur wenn eine schlechte Zeit eine Weile da sein konnte, kann danach wieder eine gute Zeit anbrechen. Gehört halt beides zum Leben dazu.

Zumindest in der Theorie.

… und in der Praxis

Praktisch gesehen sieht das natürlich ganz anders aus. Da geht es uns allen immer gut. Wir setzen ein Lächeln auf, erzählen vom neuen Auto, dass das mit der Fernbeziehung voll in Ordnung ist, wie toll die Kinder gedeihen, wie gut das Studium läuft, dass wir auf Arbeit voll und ganz zufrieden sind, wie erholsam der letzte Urlaub war, wie sehr wir uns auf die Weihnachtsfeiertage ganz in Familie freuen und dass uns das bisschen Stress nichts ausmacht. Denn den hat ja jeder und deshalb gibt es noch lange keinen Grund zum Jammern. Anderen geht es schließlich noch schlechter.

Ich hatte vor Kurzem eine Phase, da ging es mir nicht gut. Einen Monat lang ging das und es wurde von Woche zu Woche schlimmer. Morgens kam ich ewig nicht aus dem Bett raus und nachdem ich endlich aufgestanden war, legte ich mich als Erstes aufs Sofa. Mir fehlte jegliche Kraft, ich war schnell gereizt und habe irgendwie versucht, mich durch den Tag zu schleppen. Fast jeden Abend bin ich mit meinen Kindern eingeschlafen, weil ich einfach nicht mehr konnte. Wirklich für andere da sein konnte ich nicht und auch für essmo ist in dieser Zeit nicht viel geworden. Anfangs ging dieses Unbehagen noch zu ertragen, am Ende nicht mehr. Da wollte ich nur noch auf dem Sofa liegen, mir die Kuscheldecke über den Kopf ziehen, heulen und mich in meinem Selbstmitleid baden. Wirklich, es gibt nichts schön zu reden! Mir ging es hundeelend!

Und während ich das so schreibe, werden Stimmen in meinem Kopf laut. Ich bin hier in einer professionellen Rolle und kann doch nicht sagen, dass ich total gelitten habe und gar nichts mehr ging. Ich muss doch stark sein und kann mich nicht einfach neben die Frauen, denen ich mit essmo helfe, hocken und auch leiden. Das geht doch nicht!

Aber ich will diese Stimmen nicht mehr hören. Ich will mir nicht mehr die Tränen wegwischen und ein Lächeln aufsetzen, wenn mir nicht danach ist. Ich will auch nicht funktionieren, wenn es gerade nicht geht. Nein, ich will endlich sagen können: Ja, manchmal geht es mir schlecht. Manchmal sogar sehr schlecht.

Weil ich hoffe, dass sich dann auch andere – Studienjahrgangsbeste, Familienmanagerinnen, Supermütter, Ehefrauen, Schwiegertöchter, ehrenamtlich Engagierte, Verkäuferinnen, Schneiderinnen, Polizistinnen, Lehrerinnen,  Ärztinnen, Therapeutinnen, Managerinnen, Frauen in Führungspositionen und andere Erfolgsmenschen – hinter ihrem Ist-doch-alles-in-Ordnung-Lächeln hervor trauen und sagen: „Ja, ich kenne das auch.“

Und wie ist das bei dir? Wem würdest du gerne mal ehrlich erzählen, wie es dir gerade geht?

Lass uns doch gemeinsam schwach sein, denn das ist wirklich stark.

Ich grüß dich lieb.

© Dorothea

Teile den Artikel auf:

Facebook   Telegram   Twitter   LinkedIn   XING

Facebook   Instagram   YouTube   iTunes   Spotify

Newsletter

Möchtest du 4x bis 6x im Jahr spannende Infos zu traumasensibler Körperarbeit bei Essstörungen und Veranstaltungen in Dresden zugeschickt bekommen?

Hinweis: essmo: Wege aus der Essstörung ist ein psychosoziales Angebot und du bekommst Hilfe zur Selbsthilfe. Die Inhalte und Angebote dieser Seite ersetzen nicht den Besuch bei einem Arzt, Therapeuten oder Heilpraktiker.

Dieses Projekt wird mitfinanziert durch:

EU     ESF     Sachsen