Essstörungen als Spiegel der Gesellschaft

Essstörungen als Spiegel der Gesellschaft

von | Sep 23, 2018

Wenn ich mit Frauen, die von einer Essstörung betroffen sind, zu tun habe, sind diese oftmals sehr dankbar für die Anonymität des Internets. Zu schambesetzt ist der Fakt, unter einer Essstörung zu leiden. Anders zu sein als die anderen. Und irgendwie krank.

Und genauso erlebe ich Menschen, die auf der anderen, der „gesunden“ Seite stehen und sorgenvoll auf die Frauen schauen, die das Essen verweigern, um ein bestimmtes Schlankheitsideal zu erreichen. Eben auf die anderen, die irgendwie krank sind.

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass es einen klaren Schnitt gibt zwischen den einen und den anderen.

Ich persönlich sehe das nicht so. Im Gegenteil: Ich glaube, dass du mit deiner Essstörung nicht anders bist, sondern dass du inmitten der Gesellschaft stehst. Und dass wir dankbar dafür sein können, dass es dich mit eben deiner Thematik gibt. Denn Essstörungen sind ein ganz deutlicher Spiegel dafür, wie viel in unserer gesamten Gesellschaft in Hinblick auf unsere Frauenkörper schief läuft.

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Körperthemen – nur eine Frage bei Essstörungen?!

Oftmals heißt es ja, dass Frauen, die ein bestimmtes Schlankheitsideal verfolgen und die ihren Körper nicht annehmen können, eine Essstörung entwickeln.

Aber ist es wirklich so? Ist der Rest der Frauen wirklich absolut zufrieden mit sich und ihrer Figur? Ich glaube nicht.

Wohl so gut wie jede Frau steht Morgen für Morgen vor dem Spiegel, um ihren Körper penibel von oben bis unten zu betrachten. Und dann wird kritisiert und bemängelt und geschaut, was noch besser zu sein hat.

Geht sie auf die Straße, hat sie unzählige Möglichkeiten, um sich mit anderen Frauen zu vergleichen. Um zu schauen, ob die Kollegin zugenommen hat und – wenn das so ist – damit das eigene Selbstwertgefühl aufzuwerten.

Am Nachmittag ein ungeplanter Zwischenfall. Ein Horrorszenario: Ein guter Freund stellt die Frage, ob sie schwanger sei. Sie muss verneinen. Ich glaube, solch eine Bemerkung stürzt wohl so gut wie jede in eine tiefe Sinnkrise.

Allerspätestens dann ist der Zeitpunkt gekommen, um sich im Fitnessstudio anzumelden und unter größter Kraftanstrengung zu versuchen, den eigenen Körper besser und schlanker und attraktiver zu machen.

Kurzum: Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper ist nicht nur ein Phänomen in Zusammenhang mit Essstörungen, sondern ein Thema, was alle Frauen betrifft.

Doch warum ist es so, dass auf kollektiver Ebene so eine riesige Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper herrscht?

Auf ganz subtile Weise bekommen wir tagtäglich vermittelt, wie wir auszusehen haben.

  • Mir fallen da zum Beispiel die vielen Diäten ein, die immer wieder den Markt erobern. Immer die Botschaft sendend: „Du musst schlanker sein.“
  • Dann sind da die Models, die quasi untergewichtig sein müssen, um in dem Job arbeiten zu dürfen.
  • Ich denke an Werbeplakate und Frauenzeitschriften, wo die Körper grundsätzlich nachbearbeitet sind. Allein die Vorstellung, dass natürliche Körper abgebildet werden, ist doch absolut befremdlich, oder?
  • Richtig schräg wird es dann, wenn leicht bekleidete Damen benutzt werden, um Autos, Handyverträge oder Flugreisen zu bewerben. Ich persönlich verstehe zwar nicht, was unsere Frauenkörper mit dem Kauf eines Autos zu tun haben, aber irgendwie ist es total normal, dass die Werbeindustrie unsere Körper für ihre Zwecke nutzt.

Und diese Manipulationen von außen sind so beherrschend, dass kaum eine weiß, dass es auch anders geht. Dass es tatsächlich möglich ist, den eigenen Körper zu lieben, so wie er ist. Mit jeder Falte, mit jeder Unreinheit, mit jedem Mal und mit jeder Narbe, die etwas aus der Lebensgeschichte der Frau erzählt. Wenn wir Frauen in uns und unseren Körpern ruhen würden, dann würden wir nicht mehr versuchen, irgendwelchen Erwartungen von außen zu entsprechen. Dann würden wir weder anders aussehen wollen noch bräuchten wir Bestätigung von außen, um uns gut und richtig zu fühlen.

Du bist also kein Einzelfall! Du bist mittendrin in einer Gesellschaft, die ein ziemlich verschobenes Bild davon hat, wie Frauenkörper zu sein haben. Und die glaubt, über diese Körper verfügen zu dürfen, die diese manipuliert und für ihre Zwecke benutzt.

Es ist also an der Zeit, dass wir Frauen uns unsere Körper zurück erobern, sodass weder die Werbung noch andere Menschen Macht darüber haben! Es ist an der Zeit, auf tiefster Ebene zu verinnerlichen, dass wir vollkommen in Ordnung sind, so wie wir sind!

Essstörungen als eine Chance für die Gesellschaft

Und nun möchte ich sogar noch einen Schritt weiter gehen: Du bist mit deinen Problemen nicht nur mittendrin in der Gesellschaft – du bist mit deiner Essstörung sogar ein riesiges Geschenk für unsere Gesellschaft.

Warum?

Schieflagen und verschobene Bilder können ja nur so lange existieren, solange es viele, viele Menschen gibt, die dieses Spiel mitspielen. Das heißt, jede einzelne hätte für sich die Chance, dieses kranke Spiel zu durchschauen und daraus auszusteigen.

Die Menschen, die mittelmäßig unzufrieden mit ihrem Körper sind, werden das aber wahrscheinlich nicht tun. Denn Menschen schauen erst dann hin und verändern etwas, wenn der Leidensdruck richtig groß geworden ist.

Und da du vermutlich wirklich sehr unter den verschobenen Vorstellungen leidest, wirst du höchstwahrscheinlich etwas ändern wollen. Du bist ja durch die Essstörung quasi dazu angehalten, dich mit Körperthemen auseinander zu setzen, und damit, wie es anders gehen kann.

Ich bin überzeugt davon, dass du mit der Zeit ein gesundes Bild von Frauenkörpern entwickeln wirst und auf tiefer Ebene verstehst, dass du wunderschön und liebenswert bist, so wie du bist.

Und wenn das andere beobachten, werden auch sie ins Nachdenken kommen, ihre eigene Unzufriedenheit wahrnehmen und anfangen zu hinterfragen. Es kommt also ein Stein ins Rollen…

Also, du Liebe, ich glaube weder, dass du anders noch krank bist. Ich glaube lediglich, dass du mit deiner Essstörung auf sehr überspitzte Weise zum Ausdruck bringst, was für verrückte Bilder von Frauenkörpern in den Köpfen von uns allen festsitzen. Und dass das eine riesen Chance ist, um endlich etwas zu verändern. Zum Wohle für dich und – da das Kreise ziehen wird – auch für die Gesellschaft.

Ich grüße dich lieb, du Hübsche.

© Dorothea

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