Ein Blick hinter die Fassade

Ein Blick hinter die Fassade

von | Aug 15, 2018

Vor einigen Jahren habe ich für ein paar Monate eine junge Frau begleitet: 15 Jahre, Klassenbeste, beliebt bei Lehrern und Mitschülern. Auch in ihren Hobbys war sie sehr erfolgreich, unter anderem supertalentiert im Klavierspielen. Zudem sah sie ausgesprochen hübsch aus mit ihren langen Haaren und den weichen Gesichtszügen. Eine heranwachsende Frau, die auf allen Ebenen ihres Lebens perfekt war und eigentlich nur glücklich sein konnte bei so viel Erfolg.

Doch es gab noch etwas anderes an ihr, von dem kaum jemand wusste: Hinter dieser perfekten Fassade sah es sehr, sehr einsam aus. Traurigkeit durchzog jede Zelle ihres Körpers und sie war gerade dabei, in eine handfeste Magersucht zu rutschen.

Geschichten wie diese wiederholen sich unter Betroffenen: Da sind sehr talentierte, engagierte und erfolgreiche Frauen, die scheinbar alles haben in ihrem Leben. Doch der Schein trügt, denn hinter der Fassade sieht es komplett anders aus.

So möchte ich heute über diese perfekten Fassaden schreiben und einen Blick dahinter wagen.

Das kollektive Leben hinter Fassaden

Früher dachte ich immer, dass dieses Thema mit der perfekten Fassade nur Frauen mit Essstörungen betrifft. Wenn ich mich nun heute so umschaue, bin ich überzeugt: Es ist ein kollektives Thema.

Denn hast du dir schon einmal bewusst gemacht, wo überall dieses Versteckspiel läuft?

  • Los geht es mit der ganz simplen Fragen „Wie geht es dir?“ – egal ob von der Nachbarin, dem Kommilitonen vom Studium, der befreundeten Mutti aus dem Kindergarten oder der Kumpanin aus dem Pilateskurs gestellt. Es wird generell mit einem standardisierten „Gut!“ geantwortet.
  • Ich denke da weiter an Arbeitskontexte, wo es darum geht, dem Chef, den Kollegen und natürlich den Kunden immer höflich und gut gelaunt gegenüber zu treten – unabhängig davon, wie es hinter der Fassade aus gespielter Fröhlichkeit aussieht.
  • Dieses Verhalten wird schon früh geübt – nämlich in der Schule. Wie in dem Beispiel der heranwachsenden Frau setzen sich Lehrer und Schüler auch dort ihre Maske auf und tragen diese konsequent zehn Jahre lang. Ohne sich auch nur ein einziges Mal auf wertschätzende und dennoch ehrliche Weise zu sagen, wie es ihnen im Schulkontext wirklich geht.
  • Mir fallen auch Therapeuten-Klienten-Beziehungen ein. Wie bereits im Studium gelernt, halten Therapierende einen sogenannten „professionellen Abstand“. Sie scheinen in den Augen ihrer Klienten perfekt und ohne Probleme. Doch hinter dieser Fassade sind sie letztendlich manchmal genauso einsam und ratlos wie die Hilfesuchenden, die ja eigentlich kommen, um ihre Einsamkeit zu überwinden.

Nun könnte man meinen, dieses Versteckspiel hinter der Fassade sei nur ein Problem im öffentlichen Raum. Aber nein, auch im privaten Bereich geht es weiter…

  • Wie steht es um die Großfamilien, in denen jede und jeder seine Rolle seit Jahrzehnten so gut spielt, dass schon vor der Familienfeier klar ist, wie das Treffen verlaufen wird und wer was sagen wird?!
  • Auch im Umgang mit den eigenen Kindern geht es wohl eher darum, sich als Erwachsener auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten – natürlich der Erziehung wegen – anstatt den Kindern authentisch gegenüber zu treten und zu zeigen, dass die Erwachsenen auch nicht alles wissen und können.
  • Und dann sind da die Partnerschaften, in denen es still geworden ist. Wo jeder so sehr mauert, um nicht erneut verletzt zu werden. Und wo nichts mehr von der Lebendigkeit und der Echtheit des Anfangs zu spüren ist.
  • Ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen: Selbst in unserem intimsten Bereich, den Betten, läuft ein permanentes Versteckspiel. Da sagt niemand, was in diesem Moment für Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle da sind und wo die Grenze liegt. Weil jeder so damit beschäftigt ist, dem uns vorgegaukelten Bild vom perfekten Liebhaber zu entsprechen.

Ein vorsichtiger Blick hinter die Fassade

Wenn ich mir diese Liste nun anschaue, so bin ich sehr erschrocken, dass sich das Problem mit der Fassade durch nahezu alle Bereiche unseres Lebens zieht. Und das ist traurig, denn Fassaden sind etwas Starres, etwas Unbewegliches und letztendliches etwas Totes. Wer hinter so einer perfekten Fassade lebt, lebt ziemlich einsam.

Doch nun stell dir vor: Was wäre, wenn wir anfangen würden, dieses Spiel nicht mehr mitzuspielen? Was wäre, wenn wir einen Blick hinter diese unangreifbaren Fassaden zulassen würden?

Ich weiß nicht, in welchen Kontexten du dich befindest. Aber wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann würde ich mir wünschen, dass du anfängst zu hinterfragen. Ist das, was dir erzählt wurde und immer noch erzählt wird, wirklich so gut für dich? Was würde denn passieren, wenn du beginnen würdest, die Fassaden in deinem Leben abzubauen? Was wäre, wenn du dein Gegenüber mal hinter diese Mauern schauen lässt?

Sicher ist das erstmal ungewohnt und es kann auch Angst machen, denn dadurch machst du dich verletzlich. Doch ich glaube, dass es sich lohnt, denn dann würde dein Gegenüber merken: ‚Hey, das ist ja genauso ein Mensch wie ich, der genauso seine Fragen und Sorgen hat und der genauso kämpft.‘ Das hat etwas unglaublich Verbindendes. Und auf diese Weise hat dein  Gegenüber überhaupt erst die Chance, sich mit dir zu freuen, wenn dir Dinge gelingen, wenn es dir wirklich gut geht und wenn du aus tiefsten Herzen dankbar bist.

Und im nächsten Schritt wird dein Gegenüber anfangen, auch seine Mauern Stein für Stein abzubauen. Dann wird auch er oder sie sich zeigen mit all dem, was ihn oder sie gerade bewegt.

Dabei passiert etwas Wunderschönes: Es begegnen sich nicht mehr zwei Fassaden, sondern zwei Menschen. Ganz direkt von Herz zu Herz. Sodass das Thema Einsamkeit immer mehr Geschichte werden kann.

Ich glaube wirklich, dass es sich lohnt, Blicke hinter die Fassade zu werfen und zuzulassen. Damit wir einander wirklich begegnen können – mit all unserer Zartheit und Wildheit, mit all unserer Verletzlichkeit und unserem Mut. Und letztendlich mit all dem, was gerade jetzt in diesem Moment da ist.

Ich grüß dich lieb. Nicht von Helfender zu Betroffener, sondern ganz direkt von Mensch zu Mensch.

© Dorothea

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