Das Essen und ich 9 Jahre nach der Essstörung

Das Essen und ich 9 Jahre nach der Essstörung

von | Aug 5, 2018

Für viele Frauen inmitten einer Essstörung ist es ja ein großes Thema, ob es überhaupt möglich ist, dass sich irgendwann nicht mehr alles um Essenspläne, den täglichen angstvollen Schritt auf die Waage und das verzweifelte Kontrollieren des Essverhaltens dreht. Und wer so richtig in den Klauen der Essstörung steckt, kann es sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, dass es irgendwann genau so sein wird.

So möchte ich dir heute einen ganz persönlichen Einblick in das geben, was von meiner Essstörung noch übrig ist. Und welches Verhältnis das Essen und ich heute in Stresszeiten zueinander haben.

Das Nicht-Essen als Bewältigungsstrategie

Jeder Mensch hat ja so seine Strategien, mit denen er auf Stress reagiert. Die einen greifen schnell zur Zigarette, wenn sie nervös werden. Andere holen sich eine Packung Beruhigungsmittel aus der Apotheke. Und wieder andere trinken dann sehr regelmäßig ihre zwei, drei Gläschen Rotwein am Abend. Beliebt ist auch, sich hinter das Smartphone bzw. vor den Fernseher zu verziehen, in einen Kaufrausch zu verfallen oder sich in Arbeit zu stürzen. Und wieder andere Menschen trösten sich mit Sex oder verstricken sich in Beziehungen, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind.

Kurzum: Jeder und jede hat sich in seinem Leben Strategien angeeignet, um mit Stress umzugehen. Bei mir ist es das Nicht-Essen.

Nun geht es mir inzwischen so, dass ich über unglaublich viele konstruktive Stressbewältigungsstrategien verfüge. Das bedeutet, dass es wirklich schon sehr, sehr viel an Stress braucht, bis ich auf mein eingefahrenes Muster des Nicht-Essens zurück greife. Meine Resistenz gegenüber Stress hat also in den letzten Jahren unglaublich zugenommen.

Es gibt aber auch Tage und Zeiten, in denen der innere Stress derart groß ist, dass meine konstruktiven Bewältigungsstrategien nicht mehr ausreichen. Im letzten halben Jahr war so eine Phase.

Und auf einmal ist ein Phänomen aufgetreten, das ich schon fast vergessen hatte: Mit einer gewissen Regelmäßigkeit habe ich Mahlzeiten ausgelassen und habe insgesamt weniger gegessen als sonst.

Ein Rückfall? Ist es also doch nicht möglich, eine Essstörung komplett zu überwinden? Werden die Qualen ein Leben lang bleiben?

Auf all diese Fragen antworte ich mit einem ganz klaren Nein!!!

Das Nicht-Essen als Freundin

Denn inzwischen ist es anders als damals, als ich noch inmitten der Essstörung steckte.

Damals war die Essstörung meine Feindin. Sie hat versucht, mich zu bekämpfen, indem sie mir die grässlichsten Gedanken in den Kopf gesetzt hat: „Du musst abnehmen!“ „Erst wenn du schlank bist, wirst du glücklich sein!“ „Hör endlich auf, so maßlos zu essen!“ Und genauso habe ich versucht, gegen die Essstörung anzukämpfen, indem ich mir genauste Pläne gemacht habe, wann ich was esse, damit es nicht zu wenig ist, und welches Mindestgewicht ich auf jeden Fall haben möchte. Es war ein einziges Rangeln und Schieben zwischen uns.

Heute ist das nicht mehr so. Denn auch wenn im letzten halben Jahr bestimmte Muster wieder da waren, war das Nicht-Essen (ich bezeichne es gar nicht mehr als Essstörung!) meine Freundin. Ich wusste, dass ich momentan auf diese Strategie zurück greife, weil ich den vielen inneren Stress gerade nicht anders bewältigt bekomme. Weder habe ich versucht, irgendwie gegenzusteuern noch wollte ich verhindern, eben nicht in diese alten Muster zu verfallen.

Ich habe lediglich wahrgenommen, dass ich momentan weniger esse und öfters mal Mahlzeiten auslasse. Und habe das so stehen gelassen. Ganz entspannt und ohne den Versuch, daran etwas zu ändern. Dieses Phänomen durfte einfach da sein. Denn ich wusste, dass das Nicht-Essen nur eins will: Mir helfen, die stressige Zeit möglichst gut durchzustehen.

Und im Gegenzug dazu ist auch dieses Überbleibsel der Essstörung freundlich mit mir umgegangen. In keinem Moment hat es mir eingeredet, dass ich schlanker sein müsste oder dass ich nicht schön bin. Im Gegenteil: Ich empfand meinen Körper die ganze Zeit als schön und hatte nie das Bedürfnis, ab- oder zunehmen zu wollen.

Das Nicht-Essen und ich haben also sehr konstruktiv zusammen gearbeitet.

Und noch etwas ist passiert, was mich sehr fasziniert: Dadurch, dass das Nicht-Essen und ich Verbündete waren, habe ich während der gesamten Monate stabiles Gewicht gehalten. (Wobei ich sagen muss, dass Schwankungen von ein bis zwei Kilo für mich als normal gelten. Denn diese Schwankungen können auch innerhalb eines Monatszyklus oder im Wechsel vom Sommer zum Winter vorkommen.)

Doch wie kann das sein?

Während der ganzen Zeit war ich auf einer sehr tiefen Ebene mit meinem Körper verbunden und habe auf ihn gehört. Das heißt, dass nicht mein Kopf entschieden hat, weniger zu essen, sondern mein Körper. Wenn er gerade weniger an Energiezufuhr brauchte, dann hat er mir das signalisiert, indem ich keinen Appetit hatte und darauf habe ich gehört. Und andermal hatte ich wirklich Lust, feine Dinge zu essen und bin dem dann nachgekommen. Mit der Folge, gewichtstechnisch keinerlei Kapriolen geschlagen zu haben. Faszinierend, oder?

Das Fazit, das ich nun ziehen möchte: Die Strategie, Stress mithilfe von Essen zu bewältigen, wird ein Leben lang bleiben. Aber mit der Zeit werden diese Muster schwächer. Und: Das Essen bzw. Nicht-Essen wird zur Freundin, die lediglich helfen möchte, stressige Zeiten gut zu überstehen.

Ich hoffe, ich konnte dir mit diesem persönlichen Einblick Hoffnung machen, dass das Leid, was die Essstörung momentan mit sich bringt, irgendwann aufhören wird. Und das deine größte Feindin zur Freundin werden kann.

© Dorothea

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