Vom Lebensgefühl eines Menschen
Neulich saßen mein Mann, meine Kinder und ich auf der Treppe vor unserem Haus in der Nachmittagssonne und aßen Eis. (Auf Facebook hatte ich schon geschrieben, dass wir gerade dabei sind, das Haus meines Großonkels zu beräumen, um dort unseren Traum vom eigenen Häuschen zu verwirklichen.)
Plötzlich fiel mir ein Schild in die Augen, das an der Innenseite der Garagentür hängt: „Säuglinge. Eltern Zutritt verboten“, stand darauf. Irritiert über diese Worte kommentierte ich das Schild. „Ist aus dem Krankenhaus“, meinte mein Mann achselzuckend. Stimmt, mein Großonkel hatte bis zu Beginn der 90-er Jahre im Krankenhaus gearbeitet.
Mein Mann dachte schon weiter und meinte, ich könne doch daraus einen Blogartikel machen. Im selben Moment durchfuhr mich ein Blitz und mir lief es kalt den Rücken runter. Denn mir wurde schmerzhaft bewusst, was es mit diesem Schild auf sich hatte.
Szenenwechsel.
Ich würde dich gerne fragen, mit was für einem Lebensgefühl du umher läufst. Empfindest du die Welt als sicheren Ort? Und fühlst du dich willkommen hier? Oder trägst du große Unsicherheiten in dir und hast das Gefühl, dass hinter jeder Ecke eine Gefahr lauern könnte?
Vermutlich 99,9% der Frauen, die unter einer Essstörung leiden, würden vermutlich mit Letzterem antworten. Wenn du auch dazu gehörst, dann ist dieser Artikel etwas für dich. Es gibt nämlich einen engen Zusammenhang zwischen dem Schild an der Garagentür auf unserem Grundstück und deinem unsicheren Lebensgefühl.
Neugierig? Dann lies weiter.
Vom Schild an der Garagentür …
Warum ist mir nun ein eiskalter Blitz durch den Körper gefahren, als mir bewusst wurde, was es mit dem Schild auf sich hat?
Bis weit in die 90-iger Jahre (und mancherorts erschreckenderweise noch länger) gab es in deutschen Krankenhäusern eine allgemeine Praxis, wie mit Neugeborenen umgegangen wurde: Die Babys wurden unmittelbar nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt und in ein Zimmer mit lauter schreienden Babys gelegt, damit sich die Mutter von der Geburt erholen konnte. Und von so einem Zimmer stammte das Schild an der Garagentür.
Schauen wir uns nun an, was dieses Ereignis mit so einem Menschenkind macht:
Neun Monate lang ist das kleine Wesen im Bauch der Mutter wunderbar geborgen, getragen, gewärmt und über die Nabelschnur wie auch über Streicheleinheiten durch die Bauchdecke hindurch genährt. Mit der Geburt ändert sich mit einem Schlag alles: Das Licht wird greller, die Geräusche lauter, die Temperatur ist kühler und sogar der Aggregatzustand, in dem es sich befindet, ist ein anderer. Für so einen Neuankömmling ist das eine unglaublich beängstigende Situation, da sich mit einem Mal alles ändert.
Deshalb braucht das kleine Wesen gerade in den ersten Stunden, aber auch während seiner ersten Lebensmonate eine vertraute Person, die ihm Sicherheit gibt. Und wer könnte diese Aufgabe besser übernehmen als Mama? Schließlich hat das Baby bereits neun intensive Monate mit ihr verbracht und dadurch eine enge Bindung zu ihr aufgebaut.
Ich glaube, ich brauche nicht viel dazu schreiben, warum es alles andere als gut ist, wenn ein Baby unmittelbar nach der Geburt von seiner Mutter getrennt wird. Es ist vollkommen logisch, dass es durch solch eine Erfahrung in den ersten Lebensstunden die Welt von Anfang an als unsicheren Ort erlebt, an dem es nicht willkommen ist.
Damals glaubte man noch, Babys würden keinen Schmerz fühlen. Heute weiß die Bindungsforschung, dass gerade die ersten zwei Stunden nach der Geburt, in denen der Neuankömmling mit großen Augen schaut, wo er gelandet ist, bevor er einschlafen und sich von der Geburt erholen möchte, die prägendsten sind. Diese Zeit trägt einen großen Teil dazu bei, ob ein Menschenkind die Welt als sicheren Ort empfindet oder eben nicht.
… und von einem neuen Lebensgefühl
Ich weiß nicht, wie es dir geht. Vielleicht hast du mit diffusen Ängsten oder einem tiefen Schmerz zu kämpfen, ohne eine Erklärung dafür zu haben. Es könnte sein, dass diese Ängste und dieser Schmerz genau aus dieser Zeit damals stammen.
An diese frühe Zeit hat ein Mensch keine Erinnerungen, aber die Gefühle von einst sind im Körper gespeichert und warten darauf, endlich raus zu können.
Und genau darum geht es: Nicht mehr vor den beängstigenden und schmerzhaften Gefühlen davon zu laufen, sondern sie zuzulassen und zu fühlen. Immer wieder und immer wieder. Dieser Prozess kann über Monate gehen, weil immer wieder neue Ängste und neuer Schmerz aufsteigen. Vielleicht auch über Jahre. Aber es ist wichtig, sich durch diese Emotionen hindurch zu fühlen. Denn mit jeder Minute des Fühlens lässt du mehr von dieser beängstigenden Erfahrung zurück. Und das bedeutet, dass sich dein Lebensgefühl zunehmend von „unsicherer Ort und nicht willkommen“ hin zu „sicherer Ort und willkommen“ wandelt. So schrecklich es ist, immer wieder Ängste auszustehen und Schmerz zu fühlen – es lohnt sich auf alle Fälle.
Ich bin diesen Weg gegangen und sage das wirklich aus eigener Erfahrung. Noch vor drei Jahren bin ich absolut unsicher durch die Welt gestolpert und habe mir vieles nicht getraut. Heute gehe ich davon aus, dass es das Leben gut mit mir meint. Und dass ich das bekomme, was ich brauche, um glücklich zu sein. Und da sich in mir viel verändert hat, hat sich auch im Außen viel verändert und ich ziehe inzwischen ganz viele Menschen, Erlebnisse und Dinge an, die mir gut tun.
Ich wünsche dir viel Kraft. Und ziehe den Hut vor dir, wenn du dich auf den Weg machst, um dich deinen Ängsten und deinem Schmerz zu stellen. Ich kann dir versichern: So schwer der Prozess ist – du wirst vom Ergebnis überwältigt sein!
Und: Du musst ihn nicht alleine bewältigen. Hol dir wirklich Hilfe, wenn es dir gut tun würde, von jemandem begleitet zu werden.
Ich schick dir liebe Grüße.
© Dorothea
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